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eXperimenta Dez. 22

Buchvorstellung von Peter Rudolf in eXperimenta.de

Gedichte der Achtsamkeit – Der Haiku-Weg

von Elena Abendroth mit Fotos von Georg Seibt

169 dreizeilige Gedichte veröffentlicht die Autorin in „Gedichte der Achtsamkeit“. Im Vorwort drückt Elena Abendroth die Absicht aus, dass wir mit ihnen „mehr Spiritualität im Alltag […] gewinnen“. Sie folgt „den Gedanken von Thich Nhat Hanh“ (1926-2022), einem vietnamesischen spirituellen Lehrer, und verbindet buddhistische Achtsamkeit mit christlichem Mitgefühl und christlicher Liebe.

Viele Gedichte stehen im traditionellen 5-7-5-Schema. Ein schönes Haiku, von Seite 17, lautet:

Reichliche Ernte
Rotgelbe Äpfel im Gras
Würmer und Schnecken

Schön finde ich dieses Haiku der gefallenen Äpfel, weil es das Potenzial in sich trägt, mich anzuregen. Denn schon überlege ich: Könnte mit den noch besseren Äpfeln nicht eine Wähe gebacken werden? Blieben dann noch genug Äpfel für Würmer und Schnecken liegen? Oder lasse ich alle Äpfel liegen in der Hoffnung, es würden wieder vermehrt Amseln meinen Garten besuchen?

Unter den vielen gelungenen Haiku finden sich manche, die vom 5-7-5-Schema abweichen. Das folgende steht auf Seite 57:

gemeinsam speisen
ganz zärtlich nimmt der Hund
das Brot

Das zitierte Haiku mit den Äpfeln gehört in das Kapitel „Natur“, das Haiku mit dem Hund findet sich unter „Glück“. Das Buch enthält 15 thematische Kapitel, die mit einer kurzen Einführung beginnen und zwischen acht bis achtzehn Dreizeiler enthalten. Meist finden sie sich zu viert auf einer Buchseite. Gesetzt sind sie alternierend links- und rechtsbündig. Damit erhält der Gedichtband ein zum ernsten Thema passendes, gefälliges Aussehen. Passend auch, dass das Buch als Hardcover veröffentlicht wurde.

Alliteration und Assonanz als Ausdruck einer poetischen Sprache treten öfters auf. Zwei Beispiele,von den Seiten 28 und 12:

Sehnsucht nach Sonne
ins Unendliche blicken
mit leichtem Gepäck

atmen und gehen
zu kristallklaren Quellen
in milchigem Licht

Ob es meditative Haiku gibt? Ein weiteres Beispiel: ein Text auf Seite 42:

Die Hände öffnen
Den tiefen Atem spüren
und die Angst

Neben eindeutigen, klaren Texten finden sich andere, die bei mir eine Irritation zurücklassen, wie beispielsweise folgender auf Seite 69:

kaum wahrnehmbare
Erkenntnis sachter Schmerzen
plötzlicher Schrei

Eine „Erkenntnis“ steht da. Dass es eine „kaum wahrnehmbare Erkenntnis“ ist, macht mir den Text ein wenig suspekt. Gewänne der Text nicht an Haiku-Charakter ohne diese, mindestens für ein Haiku eigenartige und befremdende, Erkenntnis?:

kaum wahrnehmbare
sachte Schmerzen
plötzlicher Schrei

Zwei Titel hat das Buch. Der Haupttitel (als solcher ersichtlich auf Seite 1) lautet „Gedichte der Achtsamkeit“. Dieses Vorhaben führt die Autorin mit ihren Dreizeilern konsequent aus.

Die Fotos von Georg Seibt, zu fast jedem Kapitel eines, tragen dazu das Ihre bei. Es sind durchwegs Winter- und Schneestimmungen, Aufnahmen, die durch ihre Ruhe den besinnlichen und meditativen Charakter des Gedichtbandes unterstreichen.

Den Untertitel (als solcher ebenfalls ersichtlich auf Seite 1) „Der Haiku Weg“ finde ich hingegen problematisch. Da gehört meiner Meinung nach ein Bindestrich dazu: „Der Haiku-Weg“. Die andere Bedeutung des Untertitels, ohne Bindestrich: „Der Weg der Haiku“, wäre zwar inhaltlich die korrekte Lesung des Vorhandenen. Jedoch finde ich im Buch keinen Hinweis auf diese zweite mögliche Lesart.

Die Autorin unterwirft das Haiku der Achtsamkeit, wenn sie auf Seite 7 schreibt: „Haiku sind Gedichte der Achtsamkeit.“ Das mag für die Autorin zutreffen; verallgemeinern würde ich es so nicht. Dazu rege ich an, dass die Achtsamkeit, welche dem Buch zugrundeliegt, auch gegenüber seinem Titel und seinen anderen Teilen angewendet werde – einschließlich gegenüber dem Haiku. Denn auf dem Weg, den man mit diesem Buch geht, sind unter den Dreizeilern nicht ausschließlich Haiku zu finden.

Eines aber ist sicher: Es wartet immer wieder ein schönes Haiku auf den achtsamen Leser und auf die achtsame Leserin. Auf Seite 60 dieses wunderbare:

der Gipfelerfolg
früher war alles anders
schneeweißes Haar